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jetzt: Süddeutsche Zeitung, Nr. 46, 15.11.1999, S. 6-10.

   
Das surfende Klassenzimmer.

Die modernste Schule Europas steht in Gütersloh - 18 Millionen Mark hat es gekostet, das Evangelisch Stiftische Gymnasium dazu zu machen. Aber wer Roboterlehrer, einen Luxus-Sportplatz oder einen Health-food-Pausenstand erwartet, wird enttäuscht. Dies ist eine Geschichte über Lehrer, die von Schülern unterrichtet werden, über Infrarot-Spicken und Online-Schwätzen. Und über die Frage, warum man in der modernsten Schule immer noch Heft und Füller braucht.

Text: Claudia Mayer, Fotos: Henning Bock

   
Eine Schule ist eine Schule ist eine Schule. Egal, wie gut sie sich tarnt, mit warmen Wandfarben, Kübelpflanzen oder schülerfreundlichen Sitzecken. Das Evangelisch Stiftische Gymnasium in Gütersloh versucht das aber nur halbherzig. Im Treppenaufgang haben Kunst-AGs ein paar Wände bemalt, mit den Beatles zum Beispiel und dem MTV-Logo. Eine brusthohe Pappmaché-Nachbildung der Tigerente staubt dort langsam ein. Aber das ist auch alles an Tarnversuchen. Ansonsten: rote Klinker und spitze Giebel außen; innen: griesbreifarbene Wände, das leicht veralgte Schulaquarium mit den unvermeidlichen Guppys, zerschrammte Holzstühle, weder Klopapier noch Seife auf dem Mädchenklo. Die Lehrer heißen Schröder, Schader, Küster oder Kerber, tragen gerne Vollbärte zu karierten Sakkos oder Strickpullis. Eine Schule ist eine Schule ist eine Schule - hier aber eben noch viel mehr und doch ganz anders.
Donnerstag 8.00 Uhr, 12. Klasse Grundkurs Englisch bei Frau Bansmann in Raum MMLZ. Das Klassenzimmer sieht so ähnlich aus wie die Brücke in Star Trek: vier sechseckige Tische, jeder mit fünf Rechnern, die Bildschirme sind in die Tischplatten eingelassen, durch Glasplatten geschützt vor Fingertapsern. Alle Computer mit Internet-Anschluss, dazu ein Scanner, ein Laser-Drucker, ein Farb-Tintenstrahler, ein CD-Brenner. Captain Picard würde irgendwie besser hinters Lehrerpult passen als Frau Bansmann. Aber die sitzt da meistens eh nicht, sondern läuft durchs Klassenzimmer. Mit dem klassischen Frontalunterricht "Alles schläft und einer spricht" hat das hier nichts mehr zu tun. Frau Bansmann kommt nur vorbei, wenn die Schüler sie rufen, weil sie Probleme haben. 150000 Mark hat dieses Klassenzimmer gekostet, die Möbel sind Spezialanfertigungen. Das hilft Anna-Mareike, 18, aber im Moment überhaupt nichts. Sie sucht im Internet nach Informationen zu St. Louis am Mississippi. "Total schwierig", sagt sie und runzelt die Stirn, "die Stadt ist einfach zu klein, da findste nichts drüber." Zusammen mit Constanze, 18, Melanie, 19, und Christine, 18, soll sie innerhalb von vier Wochen eine Webpage über eine fiktive USA-Reise erstellen. Die Vier haben sich für eine Fahrt auf dem Mississippi entschieden. Bildbände liegen auf den Tischen, schon aufgeschlagen, bereit zum Einscannen der Fotos. Christine muss ein Tagebuch über die Fahrt mit einem Raddampfer schreiben, die anderen drei kleine Portraits über die interessantesten Städte - auf Englisch natürlich. "Da soll ein bisschen was über die Geschichte rein, über berühmte Leute, die dort gelebt haben, ein paar typische Kochrezepte, das Klima, so in der Art", sagt Anna-Mareike. Das Stadtportrait über St. Louis hat Anna-Mareike schon fast fertig: Fein säuberlich in runder Mädchenschrift liegt es auf kariertem Block neben ihr, zum Abtippen. Den Text gleich in den Computer zu schreiben kann sie sich nicht vorstellen. "Schaff' ich irgendwie nicht", sagt sie. "Da brauch' ich erst mal Papier und Zettel."

   
Das passt eigentlich gar nicht so gut zu dem Ruf des Evangelisch Stiftischen Gymnasiums als modernste Schule Europas. Und den hat das Gymnasium der Bertelsmann-Stiftung zu verdanken, die in diese Schule - am Firmensitz der Bertelsmann AG - in den letzten 20 Jahren 18 Millionen Mark gesteckt hat. In Videogeräte, Kameras, Schnittplätze, ein Tonstudio, vor allem in Computer und Internetanschlüsse. So wurde das Gymnasium trotz griesbreifarbener Wände langsam aber sicher zur Vorzeigeschule mit drei "Multimedia-Leistungszentren", kurz MMLZ, voll mit den neuesten Geräten. Und einem Lehrerkollegium, in dem mehr als die Hälfte dank regelmäßiger Fortbildungskurse zumindest ein bisschen Ahnung vom Netz hat - eine Sensation für deutsche Schulen, in denen es üblicherweise im Keller einen PC mit Internetanschluss gibt, dazu einen Informatik- und einen Physiklehrer, die sich als einzige damit auskennen und keinen anderen ranlassen. Deshalb taucht das Gütersloher Gymnasium in jedem Zeitungsartikel und jedem Fernsehbeitrag auf, die Themen haben wie "Schulen ans Netz" oder "Schüler im Cyberspace". Weil in Deutschland eben nur 20 Prozent der Schulen überhaupt einen Internet-Anschluss haben, nicht wie in den USA 85 Prozent. Darum sind die Gütersloher Schüler das Medieninteresse gewohnt. "Die haben sogar geschrieben, wir hätten alle Laptops, dafür aber Hefte, Stifte, Tafel und Kreide praktisch abgeschafft. So ein Blödsinn", sagt Melanie und spielt demonstrativ an ihrem Zungenpiercing - in einem Artikel im Spiegel stand nämlich vor kurzem, daß bei den "adretten Kleinstadtschülern" hier "schräge Frisuren und Piercings nicht zur Mode" gehören würden. "Frechheit", sagt Melanie.

   
Natürlich sitzen die Schüler nicht den ganzen Tag vor Bildschirmen und klicken sich durch den Unterricht. "In der nächsten Stunde, in Erdkunde, hab' ich zum Beispiel ganz normalen Unterricht, mit Tafel, Buch und Heft", sagt Christine. "Oft geht man monatelang nicht in die Computerräume, in manchen Fächern überhaupt nie", sagt Melanie. "In Bio waren wir nur einmal hier und haben Versuche zur Mendelschen Vererbungslehre gemacht. Das liegt am Lehrer." - "Ich glaub', der Unterschied ist einfach, dass das ganze Internetzeugs für uns irgendwie selbstverständlich ist, nicht spektakulär", sagt Constanze. "Am ehesten merkt man es vielleicht bei unseren Abizeitungen", erzählt sie. "Die müssen immer was mit Computern zu tun haben. Wir legen unserer auf jeden Fall eine CD-ROM bei, das muss sein, sonst sagen die anderen Klassen, wir wären ein schlechter Jahrgang." - "Als wir in der siebten Klasse waren und der Lehrer zum ersten Mal gesagt hat: ,Weil ihr so fleißig wart, machen wir heute was ganz Besonderes, wir gehen in den Computerraum'", sagt Anna-Mareike, "da war ich ganz aufgeregt." "Jetzt ist es eher so was Normales wie einen Film gucken", sagt Christine. Natürlich sei es lustig, sagt Melanie, sich in Sozialwissenschaften bei Herrn Küster auf der Webpage von "Verbotene Liebe" und "Marienhof" rumzutreiben, statt Informationen über den Bundestag rauszusuchen. Oder das Schwätzen in einen Chatroom zu verlegen. "Aber Projekte wie der Amerika-Reiseführer machen auch einen Haufen Arbeit", sagt Christine. Im Unterricht surfen sie vor allem im Netz und suchen nach Informationen. Aber alles andere machen sie zu Hause; die meisten haben auch dort einen Internetanschluss. "Kurz vor dem Abgabetermin sitzt man dann echt Tag und Nacht dran", sagt Melanie. "Und nächstes Jahr im Abitur nutzt uns das gar nichts. Unser ganzes Internet-Wissen wird nämlich nicht abgefragt", sagt Constanze. "Vielleicht später mal bei Bewerbungen, dass wir sagen können ,Ich kenne mich mit Internet aus'", sagt Anna-Mareike. "Weiß nicht, ob ich das sagen kann", sagt Melanie zweifelnd. Sie erzählt vom Helden der Schule, von Benedikt. Der macht zwar schon Zivildienst, kommt aber immer vorbei und rettet alles, wenn, wie letzte Woche, das System abstürzt und der Schultechniker krank ist. "Benedikt hat Ahnung. Ich aber fühle mich nicht so, als ob ich besonders viel hätte." Frau Bansmann sieht das anders: "Die unterschätzen das total, sie können noch gar nicht beurteilen, wie wichtig ihr Wissen für sie im Beruf sein wird, wo man das heutzutage einfach voraussetzt", sagt sie und: "Bei den Kleinen in meinen Laptop-Klassen kommen solche Selbstzweifel später sicher nicht mehr auf."
11.50 Uhr, Deutsch in der 8c, einer der fünf Laptop-Klassen. In der Stunde davor haben sie eine Mathe-Arbeit geschrieben - mit Stift und Papier - die Anspannung liegt noch in der Luft, alle reden durcheinander, kichern. Zur Begrüßung des Lehrers stehen sie auf - das heißt, die meisten bleiben einfach stehen - und Herr Kerber erklärt, wie die nächste Stunde ablaufen soll: Sie sollen weiter an ihrer Deutsch-Power-Point-Präsentation arbeiten. Das bedeutet: die Inhaltsangabe ihrer Deutschlektüre mit einem Programm aufmöbeln, das Schriften vor passend eingescannten Fotos herumwabern läßt. Jubelschreie erklingen - das bedeutet, dass man in dieser Stunde vom Lehrer in Ruhe gelassen wird. "Laptops raus, setzen, los", ruft Herr Kerber, 28 Schüler klappen Laptops auf und es wird ein bisschen stiller.

   
Seit neun Monaten haben die Schüler der 8c eigene "Satellite"-Laptops mit Funkmodem, Preis im Februar: 5000 Mark, ein Vorzugspreis. Die Laptops müssen die Eltern bezahlen, in monatlichen Raten von 65 Mark stottern sie die Geräte ab. Eltern, die sich das nicht leisten können, müssen weniger zahlen, den Rest übernehmen dann die Eltern der Mitschüler. Vorher muss darüber abgestimmt werden, ob alle einverstanden sind, die Abstimmung muss einstimmig ausfallen. Herr Kerber erzählt, dass noch nie jemand dagegen gewesen sei, weder Schüler noch Eltern. "Es gab eher Proteste in den siebten und achten Klassen, die noch keine Rechner haben, weil Bertelsmann nicht so schnell so viele dieser Vorzugspreis-Laptops auftreiben konnte." Mit seinem Finanzierungsmodell will das Gütersloher Gymnasium anderen Schulen zeigen, wie man Schulen ans Netz bringen kann, auch wenn man keinen so großen Sponsor im Rücken hat - Interesse und Internetkenntnisse der Lehrer natürlich vorausgesetzt. Schulleiter Engelen ist eigens zu einer Schule nach New York in die Bronx gefahren, wo alle Schüler seit Jahren mit Laptops versorgt werden. "Und wenn's da klappt, ohne dass ständig Laptops geklaut werden oder zu Bruch gehen, dann hier bei uns doch erst recht", sagt er. Nicht dass Gütersloh irgendetwas mit der Bronx gemein hätte: In der Kleinstadt in Ost-Westfalen wohnen hauptsächlich wohlhabende Mittelschichtler. Deshalb erscheint es fast lächerlich, dass den Laptop-Schülern eingeschärft wurde, ihr teures Gerät sofort herauszurücken, wenn sie überfallen würden, und es keinesfalls heldenhaft zu verteidigen. Gegen das, was Tanja, 13, aus der 8c passiert ist, ist man aber auch hier nicht gefeit: Sie ist vom Fahrrad gefallen - das hat ihr Laptop nicht überlebt. Deshalb ist Tanja jetzt die einzige, die ohne Laptop am Tisch sitzt. "Peinlich", sagt sie, "das weiß die ganze Schule." Dabei ist so ein Unfall gar nicht so schlimm, die Laptops sind natürlich versichert. Viel mehr Ärger würde es geben, wenn die Schüler sich Spiele auf den Computer laden würden, das ist verboten, weil dann innerhalb kürzester Zeit der ganze Speicherplatz voll wäre und die Geräte vom schuleigenen Techniker nicht mehr so gut zu warten sind.

   
Tanja ist in dieser Stunde arbeitslos, sie guckt ihrer Freundin Hanna, 13, zu. Und verrät flüsternd, dass man die Laptops natürlich noch zu ganz anderen Dingen nutzen kann als für Deutsch-Präsentationen. "Zeig mal das, was ich dir vorletzte Stunde geschickt habe", sagt sie. Hanna klickt und dann steht da in wechselnder Schrift vor buntem Bildschirmhintergrund: "Du bist meine allerbeste Freundin." - "Wir schreiben uns die ganze Zeit Briefchen mit diesem Winpop-Programm. Das geht super und der Lehrer merkt nichts", sagt Tanja. Hausaufgaben rüberschieben geht auch gut, in Deutsch vor allem. "Spicken natürlich auch", sagt Hanna, "das macht man aber am besten über Infrarot." Über Infrarot sind die Rechner direkt miteinander verbunden und können Informationen ohne Umweg über den Schulserver austauschen, so kann keiner nachvollziehen, wer wem was geschickt hat. Herr Kerber nimmt die Computer-Schummeleien gelassen. "Mein Gott, früher haben sie rübergeschielt oder Zettel geschrieben, heute spicken sie eben so." - "Die Lehrer sollen bloß still sein, die schummeln doch selber", sagt Amina, 13, die das gehört hat. Sie spricht aus eigener Erfahrung. Vor kurzem hat sie zusammen mit ihrer Freundin Julia, 13, einen Einführungskurs in Power-Point für Lehrer gehalten, Teach the teacher, heißt das. Denn natürlich stehen viele Lehrer hier vor dem Problem, dass sie etwas beurteilen sollen - zum Beispiel die Deutsch-Präsentation - von dem sie keine Ahnung haben. Und das, wo die Gestaltung ein Drittel der Note ausmacht. Amina und Julia haben sich große Mühe gegeben: Zettel verteilt, erklärt, demonstriert. "Am Ende haben wir die Zettel wieder eingesammelt und einen Test gemacht. Und fast alle Lehrer haben von ihrem Nachbarn abgeguckt", sagt Amina und schüttelt vor Entrüstung ihren Kopf so sehr, dass man Angst hat, die unzähligen Haarspangen würden in alle Richtungen davonfliegen.
Der Gong läutet das Ende des Schultags ein und klingt kein bisschen anders als andere Gongs an weniger modernen Schulen. Die Laptops in der 8c werden genauso schnell zugeklappt wie Bücher. Keiner will das Klassenbuch mitnehmen, Herr Kerber versucht vergeblich, ein Opfer zu finden. Er bleibt allein mit den Beatles an griesbreifarbenen Wänden, der Tigerente und den Guppys. Geht an einem handgeschriebenen Zettel - "Negerkussbrötchen, MO + DO, 2. gr. Pause, 1.-" - vorbei in sein verrauchtes Zimmerchen mit Internetanschluss. Eine Schule bleibt eine Schule bleibt eine Schule.


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Last update 11.11.1999 Benedikt Klein